Aktuelle Forschungen zu postsozialistischen Städten Ostmitteleuropas: Transformation öffentlicher urbaner Räume nach 1989 – Akteure, Praxen und Strategien

Aktuelle Forschungen zu postsozialistischen Städten Ostmitteleuropas: Transformation öffentlicher urbaner Räume nach 1989 – Akteure, Praxen und Strategien

Organisatoren
Herder Institute for Historical Research on East Central Europe – Institute of the Leibniz Association, Marburg; TACT-Netzwerk / International Research on Art and the City
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.03.2015 - 04.03.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniela Neubacher, Andrássy Universität Budapest Email:

Eingezäunt, abgebaut und umbenannt. Im Themenpark der Öffentlichkeit bieten die urbanen Attraktionen reichlich Stoff für Konflikte. Sei es der Prunkbau der Zarin, der Palast der Partei oder die Parkfläche der Stadtverwaltung - die Diskurse über den Umgang mit öffentlichen urbanen Räumen bestimmen die aktuellen Forschungen zur Transformation postsozialistischer Städte in Ostmitteleuropa. In einem eintägigen Workshop, initiiert und organisiert in Kooperation mit dem Herder-Institut von TACT – Netzwerk für Stadtforschung 1, diskutierten TeilnehmerInnen unterschiedlicher Disziplinen über die Akteure, Praxen und Strategien jener Transformationen, und fragten nach dem richtigen Umgang mit dem sozialistischen Erbe.

Wie öffentlicher urbaner Raum als Bühne für politische Einflussnahmen benutzt wird, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der ungarischen Hauptstadt. Seit den 1990er-Jahren dominieren auf den Erinnerungsplätzen Budapests die politischen Diskurse der Konservativen und Sozialisten. Ein politischer wie gesellschaftlicher Konsens über den gemeinsamen City-Text fehlt bis heute.2 Beide Seiten führten mehrere Umbenennungswellen durch, in denen die einst „goldenen Zeiten“ der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und der Zwischenkriegszeit betont, während etwa Namen aus jüngerer Zeit überschrieben wurden. Zurück blieben nationale Gedächtnislücken, die Referentin ESZTER GANTNER (Marburg) auch als eine praktizierte „Erinnerungslöschung“ bezeichnete. Zu einem der umstrittensten Denkmäler Budapests zählt hier die „ewige Flamme der Revolution“, ein Denkmal für die ungarische Revolution von 1956 am Vorplatz des Parlaments, welches unter anderem durch seine relative Unscheinbarkeit im Vergleich zu anderen Monumenten oftmals kritisiert wurde. Ein neueres Denkmal wurde 2001 außerhalb eines neuen Shoppingcenters auf Ambitionen des Fidesz errichtet. „Arguably, this brash chrome monument has more to do with electoral politics and the ‘shopping plaza-isation of public sculpture’ than the memorialisation of a historical tragedy”, kommentierte Fowkes damals die Integration von Denkmälern in den kommerzialisierten öffentlichen Raum. „Public space becomes a theme park in the mall. But city is not a theme park”, kritisierte auch Referentin JUDIT BODNÁR (Budapest). Der verstärkte Bau von Einkaufszentren führe zu einem Ausbau kontrollierter kommerzieller Räume und verdränge Kleinhändler und informelle Märkte. Als jahrelange Beobachterin skizzierte Bodnár die Biografie des einst als „hässlichsten Platzes Europas“ titulierten „Moszkva Tér“ („Moskau Platz“), einem der bedeutendsten Verkehrsknotenpunkte und Umschlagplätze der Stadt. Anfang der 1950er-Jahre wurde der damalige „Szell Kalman Tér“ zum „Moszkva Tér“ umbenannt. Dieser Name überdauerte den Regimewechsel und der Platz sollte erst im Jahr 2011 wieder seinen alten Titel bekommen. Ein neuer Name mache ihn lange nicht schöner, meinten KritikerInnen, darunter auch der Regisseur Ferenc Töröc, durch dessen gleichnamigen Film der Name „Moszkva Tér“ ins kollektive Gedächtnis der ungarischen Filmgeschichte einging. Die Umbenennung wurde trotz Protesten durchgeführt, wenn auch der alte Name im Sprachgebrauch der BewohnerInnen dominiert. Aktuell wird der Platz renoviert und umgestaltet. Es wird sich zeigen, ob die einstige Vielfalt des „Moszkva Tér“ mit dem neuen Platz der „shopping plaza-isation“ zum Opfer fallen wird.

Schauplatzwechsel nach Berlin, wo ein ehemaliges sozialistisches Repräsentationsgebäude in den 2000er-Jahren für Konflikte sorgte, und die Diskussion über den Umgang mit dem schwierigen Erbe erhitzte. Palast oder Schloss, lautete die Kernfrage der Debatte, die mehr als ein Jahrzehnt zum Fokus von zahlreichen Gruppen, Bürgerbewegungen und parteipolitischen Streits wurde. Die Vorstellungen über die Zukunft des Gebäudes, des ehemaligen „Palasts der Republik“, wie auch über den Aufbau des Berliner Stadtschlosses gingen weit auseinander. Selbst nachdem der Abriss beschlossen war, führte die Frage nach dem Verbleib der Fassadenreste zu einer Debatte, die erst durch einen politischen Beschluss gelöst werden konnte. Dass selbst die Weitervergabe der Abbaureste postsozialistischer Repräsentationsbauten von lokalen Autoritäten kontrolliert werden musste, steht für THOMAS KLEMM (Leipzig) als Symptom für den „unkreativen diskursiven Umgang“ mit ostdeutscher Kunst und architektonischem Erbe. Als Kurator der Ausstellung und des 2007 in Leipzig stattgefundenen Kolloquiums „Gegenwart des Vergangenen“ berichtet Klemm über den Versuch von KünstlerInnen und WissenschafterInnen überregional und interdisziplinär gemeinsame Zugänge zur Repräsentationsarchitektur zu finden. Darüber hinaus falle auf, dass die nationalen Debatten zum Verbleib jener Bauten sich unterscheiden. Während in Polen mehr die Zukunft der Bauten im Vordergrund stehe, würde in Deutschland die Frage der Konservierung und Tilgung der sozialistischen Reste dominieren. Ein Ergebnis des Projekts war die gemeinsame Definition von Repräsentationsarchitektur. Die ProjektteilnehmerInnen, darunter KünstlerInnen und FotografInnen wie Verena Landau und Piotr Zylinski, verstehen darunter „singuläre Bauten und städtebauliche Ensembles, die einer Selbstinszenierung und -darstellung der Herrschenden dienen und deren primäre Merkmale ästhetischer, symbolischer und identitätsstiftender Natur sind.“3 Eine Dokumentation zum Projekt fasste die Ergebnisse der künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung schließlich zusammen.4

Klemm stellte anhand des Beispiels „Palast der Republik“ dar, wie uneins selbst 25 Jahre nach dem Regimewechsel über die Reste der sozialistischen Architektur gedacht und entschieden wird, und wie jene Debatten die Stadtentwicklung nachhaltig prägen. Referent THOMAS BOHN (Gießen) warf zur Annäherung an die Frage nach dem Umgang mit dem sozialistischen Erbe einen Blick in die Entwicklungsgeschichte sozialistischer Städte. Ihm zufolge teilten eine Reihe von postsozialistischen Städten eine gemeinsame Erfahrung des 20. Jahrhunderts: rasante Industrialisierung und Urbanisierung. Die damit einhergehenden kulturellen und sozialen Veränderungen beeinflussten jene Städte bis heute. Heutige Betrachtungen sollten daher, so Bohn, den Aspekt der Urbanisierungsgeschichte immer miteinbeziehen. Anstoß zu einer zentralen Debatte lieferte dabei das von Bohn für seine Forschungen herangezogene Modell der „Europäischen Stadt“. Auch wenn deren Eigenschaften nicht eindeutig definierbar seien, könne das Modell als Pendant der „Sozialistischen Stadt“ gegenübergestellt werden, so Bohn. „Die europäische Stadt existiert nicht“, widersprach Eszter Gantner. Im Zuge der Diskussion wurde auch die Tatsache erwähnt, dass nur vereinzelte Planstädte tatsächlich alle Kriterien der jeweiligen Modelle zur Gänze aufwiesen. Während also einerseits nützliche Parameter für die Komparatistik von Nöten wären, erschwert dieser Mangel an Eineindeutigkeit die vergleichende Forschungsarbeit.

Während Ungarns Gedenkpraxis als Revisionismus oder „Erinnerungs-Löschung“ (Eszter Gantner) interpretiert wird, diagnostizieren die Referentinnen NATALIA SAMUTINA und OKSANA ZAPOROZHETS (Moskau) im Falle Moskaus eine „Neuinterpretation des öffentlichen Raumes“. Fallbeispiel Zarizyno: Südlich der Hauptstadttore finden die Moskauer auf einem weitläufigen Gelände Erholung im Zarizyno-Schlosspark. Ursprünglich als Sommerresidenz der Zarin Katharina der Großen gedacht, bietet er seit seiner umstrittenen Rekonstruktion Anfang 2000 einen „sauberen, sicheren und zivilisierten öffentlichen Raum“. Der Park sei ein Emblem für die allgemeine Rückkehr Russlands zu „publicness“, so Samutina und Zaporozhets. Indem sie Parkanlagen und Plätze neu schaffen bzw. neu interpretieren, würden lokale Autoritäten ihre Fähigkeiten beweisen wollen. In Zarizyno treffen die BesucherInnen auf zahlreiche Verbotsschilder, wie „Betreten des Rasens verboten“ oder „Auf den Ruinen zu klettern ist untersagt“. Damit werden öffentliche Räume zu „multitemporalen Räumen“, in denen nicht nur die physische Distanz zu den Objekten, sondern auch die historische Distanz zur Vergangenheit gewahrt werden soll. Die Kontrolle des öffentlichen Verhaltens entstehe aus einer Verantwortung gegenüber des schützenswerten, kulturellen Erbes. BesucherInnen sollen sich durch die Parks wie durch Museen bewegen, und dabei die Symbole der nationalen Identität bestaunen. Doch die Umfunktionierung vom privaten Raum der Zaren zum „Geschichts-Themenpark der Öffentlichkeit“ erfolgt auch hier nicht ohne Konflikte. Bei ihren Beobachtungen im Schlosspark bot sich den Forscherinnen ein überraschendes Bild: Picknickdecken auf den gepflegten Rasenflächen, spielende Kinder auf den Ruinen, übermutige Jugendliche beim Posieren auf den Statuen. Offenbar werden die Verbotsschilder missachtet. Noch überraschender fanden die Forscherinnen aber den Ton zwischen den Sicherheitskräften und den „Widerständigen“, der wesentlich „milder“ als im Moskauer Stadtzentrum ausfalle. Es scheint, so resümierten die Referentinnen, als wäre mit der Neuinterpretation Zarizynos tatsächlich auch „Platz für alternatives Verhalten“ entstanden.

Weniger optimistisch sieht OLEG PACHENKOV (St. Petersburg) die Lage der russischen Öffentlichkeit. Was stimmt mit dem öffentlichen Leben in Russland nicht, fragte der St. Petersburger in seinem Beitrag über die Beziehungen zwischen öffentlichem Raum und öffentlichem Leben. Beispiele aus der Vergangenheit zeigten, dass das Bewusstsein für öffentlichen Zugang oftmals fehle. „Wir sind sehr extrem. Uns fehlt die Mitte“, lautet Pachenkovs Diagnose. In den 1990er-Jahren habe das öffentliche Leben keine Rolle gespielt, da die Menschen mit ihrer Existenzerhaltung beschäftigt waren. In den 2000er-Jahren kümmerte man sich durch die langsame Entwicklung einer Mittelklasse lediglich um die eigenen vier Wände und den begrenzten Raum rundherum. Der letzte Schritt, nämlich den geschaffenen Raum auch für Fremde zu öffnen und ihn nicht durch Zäune abzusperren, ließe laut Pachenkov auf sich warten. „Entweder ist der Raum privat oder er gehört dem Staat. Ein Dazwischen gibt es nicht.“ Dieses Bewusstsein führe schließlich zu einem Huhn-Ei-Dilemma. Worum sollten sich ArchitektInnen und StadtplanerInnen zuerst kümmern? Um den öffentlichen Raum oder das öffentliche Leben? Kann die Schaffung des einen Bewusstsein für das andere ermöglichen? Pachenkov vertrat die These, dass die Ermöglichung von partizipativen Aktivitäten diese Bewusstseinsänderung mit sich bringen könne.

Zusammenfassend beschäftigen sich aktuelle Forschungen zur Transformation öffentlicher urbaner Räume vor allem mit der Frage nach dem richtigen Umgang mit dem sozialistischen Erbe und den wechselseitigen Einflüssen zwischen den öffentlichen Räumen und dem öffentlichen Leben. Anhand der Beispiele in Ungarn zeigt sich eine verblüffende Kontinuität von inszenierter Öffentlichkeit. Umbenennungswellen und revisionistische Tendenzen finden sich auch in anderen post-sozialistischen Städten. Urbaner öffentlicher Raum fungiert als Bühne für inszenierte Erinnerung und Arena für politische Auseinandersetzungen. Inwiefern hat tatsächlich eine Transformation stattgefunden, wenn der City-Text vom Gegenteil zeugt? „Architektur ist immer zu einem gewissen Grad Ausdruck einer bestimmten ideologischen Struktur von Macht (dies gilt für die Kirche ebenso wie für Kommerz oder Diktatur). Aus dieser Perspektive können alle Bauformen als gleich schuldig oder unschuldig angesehen werden. (…) Da Architektur erst einmal nur ein leeres Behältnis ist kann Schuld und Erinnerung eines Systems in diese Architektur hineinprojiziert werden.“5

Auf welche gemeinsamen Vorstellungen und Parameter der Transformation öffentlicher urbaner Räume kann sich die Forschung einigen? Hier zeigte der Workshop auf, dass sich bei der Erforschung von Transformation durchaus auch ein kritischer Blick über die eigene Disziplin hinaus lohnt, so wie es etwa TATJANA HOFMANN (Zürich) in ihrem Beitrag über die Narration des Stadthabitus versuchte. Aus ihrer literaturwissenschaftlichen Analyse von Essays, Erzählungen und Romanen von ukrainischen AutorInnen zeichnete sie Strategien der Stadthabitus-Narration nach. Ihre Beobachtung zeigte, dass in vielen Werken die Stadt vermenschlicht wird, dass also dem urbanen öffentlichen Raum menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Daraus folgt, dass etwa auch das in literarischen Texten oftmals vorkommende Beklagen des Verlusts einer Stadtkultur von den BewohnerInnen als persönlicher Verlust erlebt wird. Die Stadt nimmt somit einen Teil der persönlichen Narrative ein. Bei der Erforschung der Städte müsse laut Hofmann die Betrachtung der Grammatik der Stadt, zu der literarische Texte zählen, miteinbezogen werden; ist doch jede Straße, jeder Platz und jedes Gebäude ein Teil des Stadt-Textes, den es zu verstehen gilt. Darüber hinaus müsse eine gemeinsame Meta-Sprache gefunden werden, die literatur- und sozialwissenschaftliche Sprache miteinander verbindet. Solange dies nicht geschieht, werde auch die Basis für eine komparatistische Annäherung scheitern. Oleg Pachenkov verglich den öffentlichen Raum in seinem Beitrag mit einem Stuhl, bei dem „business, state, public and experts“ als vier Beine für Stabilität des öffentlichen Lebens sorgen. Im Themenpark der Öffentlichkeit stehen die ExpertInnen bzw. ForscherInnen offenbar nach wie vor jeder allein auf ihren Türmen während sie die Menschengruppen darunter, zwischen den Absperrungen der Attraktionen, beobachten. „Interdisziplinarität wird nicht gelebt. Das ist eine Tatsache“, konstatierte Hofmann am Rande des Workshops. Und sie ist überzeugt: „Der postsozialistische Raum kann nur gemeinsam erforscht werden.“

Konferenzübersicht:

Panel I. Transformation and Landscape
Chair: Eszter Gantner (Marburg)

Judit Bodnár (Budapest), Moscow Square Reloaded: Transformation in and of Public Space

Juli Szekely (Budapest), From Heroes’ Squares to the “Place of Heroes”. The renewed memorial landscape of Budapest

Tatjana Hofmann (Zurich), Erzählungen des Urbanen. Literatur als Medium städtischer Transformation

Chair: Christian Lotz (Marburg)

Thomas Klemm (Leipzig), Repräsentationsarchitektur im postsozialistischen Europa –Werkstattbericht zu einem Projekt mit wissenschaftlichen und künstlerischen Zugängen

Panel II. The Heritage of Transformation
Chair: Ayse Nur Erek (Istanbul)

Thomas Bohn (Gießen), The Heritage of the Socialist City. Paradigm shifts of urbanisation in Eastern Europe

Regina Bittner (Dessau), Beyond the European piazza: Public scenes in central European cities

Natalia Samutina / Oksana Zaporozhets (Moscow), Parks as reinvented public arenas in Post-Socialist cities: the case of Tsaritsyno Moscow

Panel III. Public Space and Intervention
Chair: Ina Alber (Marburg / Göttingen)

Oleg Pachenkov (St. Petersburg), What’s wrong with public space in post-socialist cities?

Lilia Voronkova (St. Petersburg), Don’t step on the grass! Life in public spaces: between business and state (The сase of St. Petersburg)

Anmerkungen:
1 Link zur TACT-Webseite: <http://theartistandthecity.blogspot.de/> (22.05.2015).
2 Emilia Palonen, The city-text in post-communist Budapest: street names, memorials, and the politics of commemoration, in: GeoJournal 73/3 (2008), S.219-230.
3 Thomas Klemm / Kathleen Schröter (Hrsg.), Die Gegenwart des Vergangenen. Strategien im Umgang mit sozialistischer Repräsentationsarchitektur. DOKUMENTATION, Leipzig 2009, S.17.
4 Link zur Projektwebseite: <http://www.gegenwart-des-vergangenen.de/> (22.05.2015).
5 Silviu Aldea, Transformationen postsozialistischer Stadtlandschaften. Zur Neuinterpretation der sozialistischen Architektur, in: Christine Gölz / Alfrun Kliems (Hrsg.), Spielplätze der Verweigerung. Gegen/kulturelle Topographien und Inszenierungsweisen in Ost- und Mitteleuropa ab 1956, Köln u.a. 2014.